Fahrkarte in Richtung Leben: Im wahrsten Sinne des Wortes
Ein Gastbeitrag von Kirsten
Es ist der 17.09.2018, irgendwann mittags und ich sitze in einer Leipziger Psychiatrie auf einem Krankenhausbett, welches eben ins Zimmer geschoben wurde.
Die beiden Frauen, die sich eigentlich das Zimmer teilen, sind davon überhaupt nicht begeistert. Wir sprechen zunächst kein Wort miteinander. Ich atme ganz flach. Meine Augen brennen. Im vorangegangenen Anamnesegespräch war ich zusammengebrochen, vor Tränen und Panik konnte ich nicht mehr sprechen. Der innere Damm, der über zwei Jahrzehnte so viel Verzweiflung und Kummer zurückgehalten hatte, war eingestürzt.
Als ich am 17.09.2018 nach einer schlimmen Nacht aufgewacht war, war mir schwindlig und übel. Ich legte mich zu Hause in meinem Wohnzimmer auf den Fußboden. Nach einer kleinen Weile hörte ich (einmalig) eine tiefe, klare, völlig ruhige Stimme in mir: „Lass es einfach sein. Hör einfach auf.
“Warum ich danach zum Handy gegriffen habe, um meine ambulante Psychiaterin anzurufen und nicht den anderen Weg wählte, kann ich bis heute nicht sagen.
An die anschließende Straßenbahnfahrt zu ihr kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ich sitze ihr gegenüber, sie sieht mich an und fragt behutsam: „Frau Scherbaum, wenn ich Sie jetzt nach Hause schicken würde… Würden Sie sich etwas antun?“
Ich schaue ihr in die Augen und antworte aufrichtig und ehrlich: „Ja.“ Anschließend werde ich sofort stationär aufgenommen.
Und da sitze ich nun, begreife nicht, was passiert ist. Einerseits schäme ich mich so, weil ich so stark geweint hatte. Andererseits tat das auch irgendwie gut. Als das Stationspersonal hereinkommt, mir erste Dinge zum Stationsalltag erklärt und mein späterer Lieblingspfleger mir meinen Schreibhefter gibt, spüre ich plötzlich: DAS ist meine Chance.
Das war mein 17.09.2018, der Wendepunkt meines Lebens. Nach der Klinik wurde mein Weg zwar nicht leichter. Dennoch war für mich persönlich mein stationärer Psychiatrieaufenthalt der Startschuss in mein neues Leben. Ich ging danach den schmerzhaften Weg zurück zu mir selbst, wurde angetrieben durch den Gedanken: „Ich will nie wieder in dieses dunkle, stille Loch fallen.“ Denn mir war klar: Ein drittes Mal (nach 2015 und 2018) hätte ich das nicht überlebt.
Die Aufarbeitung meiner Kindheit und Jugend war knallhart und schonungslos. Ausgerechnet in den dunkelsten und schmerzvollsten Momenten half mir meine Erfahrung mit der Suizidalität, denn mir wurde klar: „Ich habe eine Wahl. Ich muss dieses Leben nicht führen.“ Und erst in diesen erbarmungslosen Situationen, fanden mich die erlösenden Fragen: Was heißt eigentlich für mich Leben? Wie geht das – Leben? Und: Wenn ich dieses Leben, welches so vom Kämpfen und Überleben geprägt war, nicht führen möchte – Welches dann?
Diese Fragen stellte ich mir Anfang 2020; die entsprechenden Tagebuchstellen habe ich auch auf meiner Webseite veröffentlicht. Und nun, zwei Jahre später, blättere ich immer mal durch meine damaligen Tagebücher. Was ich geschafft habe, begreife ich noch immer nicht.
Ich wohne übrigens seit einigen Monaten in Cottbus und wurde vor kurzem während eines Spaziergangs an der Spree von einem 92-jährigen Herren angesprochen (ich bin 31). Er erzählte mir, dass er vor wenigen Jahren seine Frau verloren hat und ich spürte seine große Einsamkeit. Nach einer Weile fiel ich ihm bewusst ins Wort und sagte lachend, aber dennoch mit fester Stimme, er soll mit dem Selbstmitleid aufhören . Ob es sein Ziel bis an sein Lebensende sei, sich nun selbst zu bemitleiden. Völlig verdutzt und sprachlos sah er mich an. Da erzählte ich, dass es für mich um Haaresbreite im Alter von 28 Jahren fast zu spät war. Und welch großes Geschenk es für mich mittlerweile ist, älter werden zu können und zu dürfen. Wir hatten ein langes und intensives Gespräch.
Wohin meine Reise im nächsten Abschnitt führt, weiß ich momentan nicht. Aber eines weiß ich ganz gewiss: Meine nächsten zwei Lebensdrittel sollen verdammt gut werden :D. Das ist zumindest der Plan .
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