Kinder loslassen
Jedes Jahr, wenn der Sommer in seiner vollen Pracht erstrahlte, hatte Max eine besondere Tradition. Seine Eltern begleiteten ihn zu seiner geliebten Großmutter, mit dem Zug durch sanfte Hügel und duftende Felder. Und jedes Mal, sobald die Umarmungen und Küsse ausgetauscht waren, stiegen sie in den gleichen Zug und kehrten nach Hause zurück, während Max in den Armen seiner Oma die Ferien verbrachte.
Die Jahre gingen ins Land, und mit jedem Sommer wurde Max größer, reifer. Eines Tages, als die Vorfreude auf die Ferien in der Luft lag, wandte er sich selbstbewusst an seine Eltern: "Wisst ihr, ich denke, ich bin jetzt alt genug. Wie wäre es, wenn ich dieses Jahr alleine zu Oma fahre?" Er schaute sie mit großen, hoffnungsvollen Augen an, die trotz seiner jugendlichen Begeisterung einen Hauch von Unsicherheit verrieten.
Nach einem Moment des Zögerns und einem stummen Austausch zwischen den Eltern stimmten sie zu. Schließlich muss jeder Vogel einmal aus dem Nest fliegen, dachten sie.
Der Tag des Abschieds kam, und sie standen alle auf dem belebten Bahnsteig. Max, mit seinem kleinen Rucksack, schaute zum Fenster des Zuges, während seine Eltern ihm liebevolle Ratschläge gaben. Er lächelte geduldig und dachte sich: "Das haben sie mir doch schon hundertmal gesagt!" Aber die Liebe und Fürsorge in ihren Stimmen ließ ihn schweigen.
Der Zug bereitete sich zum Abfahren vor, und Max' Vater, mit einem Zittern in der Stimme, flüsterte ihm ins Ohr: "Mein Sohn, falls du dich jemals unwohl oder verängstigt fühlst, dann... schau in deine Tasche." Bevor Max fragen konnte, spürte er, wie etwas in seine Tasche geschoben wurde.
Der Zug setzte sich in Bewegung, und Max fand sich allein in einer ihm unbekannten Welt wieder. Die Landschaft flog an ihm vorbei, und obwohl er diese Reise schon oft gemacht hatte, schien alles anders, fremder. Die Stimmen der Fremden hallten laut und unverständlich, und die Blicke des Schaffners schienen ihn zu durchbohren. Ein vorbeigehender Passagier warf ihm einen mitleidigen Blick zu, als ob er seine innere Angst spüren könnte.
Die Einsamkeit und Angst wuchsen in Max, und Tränen füllten seine Augen. Doch da erinnerte er sich an die Worte seines Vaters und tastete nach dem Papier in seiner Tasche. Mit zitternden Fingern entfaltete er es und las die Worte, die ihm alle Sicherheit der Welt gaben: "Mein Sohn, ich bin im letzten Wagen..."
Das ist das Wesen des Lebens. Wir müssen unsere Kinder ihre eigenen Wege gehen lassen, ihnen den Raum geben, zu wachsen und zu lernen. Doch wir sollten immer in ihrer Nähe sein, im übertragenen Sinne im letzten Wagen, um sicherzustellen, dass sie nie alleine sind.
